Definiert man den Fall von Lehman Brothers als Stunde Null, so jährt sich die Krise am 15. September zum ersten Mal. Ein Jahr, in dem es die Hiobsbotschaften vom Wirtschaftsteil der Gazetten auf die Titelseite schafften. Ein Jahr, in dem die Bankenkrise zunächst zur Wirtschafts- und schließlich gar zur Weltwirtschaftskrise geadelt wurde. Von einer „Kernschmelze“ des Finanzsystems war die Rede, von einem Übergreifen auf die „Realwirtschaft“, von „faulen Krediten“, die auf „bad banks“ ausgelagert werden sollten – Wortschöpfungen, die einem heute genauso leicht über die Lippen gehen wie die Fantastilliarden an staatlichen Hilfszahlungen.
Doch der GAU blieb aus, das Finanzsystem blieb uns erhalten. Der Einbruch in der Realwirtschaft geht an vielen Konsumenten auch heute noch weitgehend unbemerkt vorbei. Vergleiche mit den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stoßen vielerorts auf Verwunderung. Und schon werden erste Stimmen laut, das Gröbste sei überwunden. Es gehe wieder aufwärts. Banken wie Goldman Sachs, die ohne staatliche Hilfen heute nicht mehr am Markt existieren würden, sind wieder profitabel und schütten sogar Boni aus. Die Zertifikateindustrie verkauft neuen Wein in undurchsichtigen Schläuchen. Niedrige Zinsen und „Einstiegskurse“ im Aktienmarkt verleiten zur Spekulation. Alles also wie gehabt?
Oberflächlich betrachtet scheint dies tatsächlich so. Und genau hier liegt die Gefahr: Es darf kein bloßes „weiter so“ geben. Wir dürfen uns nicht selbstzufrieden zurücklehnen, in dem Glauben mit einem Blauen Auge davon gekommen zu sein. Denn das (scheinbare) Ende der Krise kam zu schnell. Das reinigende Feuer wurde gelöscht, bevor es das bestehende System zu einer echten Erneuerung zwingen konnte. Doch ohne diese notwendige Erneuerung wird der nächste Brand um so unerbittlicher über uns herein brechen und dann tatsächlich historische Dimensionen annehmen.
Das eigentliche Problem besteht also keineswegs darin, dass uns die Krise zu wenige Handlungsalternativen lässt. Es besteht vielmehr darin, dass sie uns nun wieder eine Wahl erlaubt: die Wahl zwischen dem richtigen und dem einfachen Weg; die Wahl zwischen einer Korrektur früherer Fehler und einer Fortführung des „status quo“. Und die traurige Wahrheit ist, dass wir – vor eine solche Wahl gestellt – in aller Regel den kurzfristigen Nutzen in den Vordergrund stellen und uns für den einfachen, den falschen Weg entscheiden.
Dies trifft insbesondere auf die Politik zu, die in dieser kritischen Zeit besonders gefordert wäre. Nicht nur, weil der 27. September wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Parlamentarier schwebt. Sondern weil die politischen Entscheidungsträger in ein feinmaschiges Geflecht aus parteipolitischen, persönlichen und branchenspezifischen Interessen eingebettet sind, das von allen Seiten Zugkräfte auf sie ausübt. Dieses Geflecht ist in den vergangenen Jahren zu einem undurchdringlichen Dickicht angewachsen und kann – lässt man nur allen Beteiligten genügend Zeit, sich in Stellung zu bringen – gute Politik erfolgreich verhindern. Denn eine Heerschar von Besitzstandswahrern macht es sich zu nutze, dass Veränderungen immer auch Nachteile mit sich bringen. Im Bestreben, es sich mit keinem Stakeholder zu verscherzen, werden dann fragwürdige Kompromisse geschlossen, deren Ausgestaltung sich auch bei wohlwollender Betrachtung nicht mit Sachargumenten begründen lässt. Was dann im Ergebnis zu einer Politik der Tippelschritte führt, die im besten Fall zumindest in die richtige Richtung zeigt.
Dies mag in einem statischen Umfeld noch funktionieren. Ändern sich jedoch die Rahmenbedingungen wie Ende letzten Jahres dramatisch, kann eine solche Politik nicht zum Erfolg führen. Und genau hier bestand die sprichwörtliche Chance in der Krise: Sie zwang die Entscheidungsträger, sich aus diesem Interessengeflecht herauszuschälen und entschlossen zu handeln. Der kollektive Schockzustand erlaubte es, den Finger in die offenen Wunden zu legen und Erste Hilfe zu leisten. Und nun – da der „Patient“ stabilisiert ist – wäre es an der Zeit, nicht nur die Symptome sondern auch die Ursachen zu behandeln. Doch mit jedem Prozentpunkt, den der DAX und die übrigen Indikatoren steigen, wird dies schwieriger. Mit jedem Tag, an dem die Krise von den Titelseiten und damit aus den Köpfen verschwindet, verliert die Politik einen Teil ihrer Entscheidungskraft. Wahltaktik und Parteiinteressen gewinnen wieder die Oberhand.
Daher dürfen wir uns nicht darauf verlassen, dass die Politik die Missstände für uns aus der Welt schaffen wird. Wir müssen selbst die Verantwortung übernehmen für die Probleme, deren Lösung in unserer eigenen Hand liegt. Wir alle. Der mündige Bankkunde, der sich von provisionsgesteuerten Beratern emanzipiert und sich nicht von Renditeversprechen blenden lässt. Der langfristig denkende Unternehmer, der seine Entscheidungen stets sowohl unter Rendite- als auch unter Risikoaspekten abwägt. Und schließlich der Angestellte, der sich nicht auf die Abhängigkeit zu seinem Arbeitgeber beruft, wenn ihm moralisch fragwürdiges Handeln abverlangt wird.
Nur wenn wir alle aus unseren Fehlern lernen und diese Lektionen in unserem kollektiven Bewusstsein bewahren, haben wir gute Chancen auf eine echte wirtschaftliche Zukunft. Auf eine Zukunft, die auch den nachfolgenden Generationen – unseren Kindern und Kindeskindern – eine vergleichbar hohe Lebensqualität bietet.
(mein Beitrag zum Leserwettbewerb der ZEIT im September 2009)
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